"Bittersweet Symphony" Kapitel 17 – ‚angels and sunsets’ Okay, etwas stimme hier nicht. Gerade er, der sonst so vor Sarkasmus sprühende, immer mies gelaunte, das-Glas-ist-halb-leer-statt-halb-voll-denkende-Typ machte einen Spaziergang mit einem Engel durch den mit zuckerigem Schnee bestäubten Wald? Wer hatte ihn eigentlich in diesen romantischen Abklatsch seiner selbst verwandelt? Und wo war der alte Miesepeter hin verschwunden? Überlegte Alex während er eine Kugel aus Schnee mit eingebackenen Tannennadeln vor sich her rollte.
„Hey, sieh mal…..meiner ist schon viel größer“, rief ihm Beth zu. Aus der Entfernung wirkte ihre zierliche Figur wie ein kleiner roter Farbklecks inmitten von strahlendem Weiß. Sie hatte bereits die ganze Wiese abgearbeitet und rollte nun die Kugel, welche einmal zu dem Körper des Schneemannes werden sollte direkt in seine Richtung. Es erforderte ihre ganze Kraft den riesigen Schneeball zu bewegen und sie war total außer Atem, als sie endlich vor Alex halt machte. „Puh“, stieß sie aus und stemmte die Hände in die Hüften.
Alex wuchtete seine Kugel auf den Unterkörper des Schneemannes und verzierte sie mit ein paar Steinchen, die als Knopfersatz herhalten mussten. „Jetzt fehlt nur noch ein Kopf“, stellte er fest und wischte sich mit dem Handrücken über die laufende Nase. Es war kälter geworden und die Schneeschicht auf dem Boden hatte eine Art Eishaut ausgebildet. Dicke Eiszapfen hingen von den Bäumen und beschwerten deren Äste so sehr, dass einige fast bis auf den Boden hingen.
Die Sonne tat ihr übriges um den winterlichen Wald noch mehr in eine Art Zauberland zu verwandeln. Ihre Strahlen brachen sich in den einzelnen Eiskristallen und brachten die gesamte Welt um sie herum zum Glitzern. Beth’ dicker weißer Schaal und die Mütze aus flauschiger Wolle passten zu dem leuchtenden Rot ihres Mantels und ließen sie wie den perfekten Weihnachtsschmuck für diese verschneite Landschaft aussehen. Alex hingegen blieb bei seiner lässigen Lederjacke. Allein ein Schaal aus dünnem graumeliertem Stoff mit kleinen Fransen an den Enden machte sein Outfit wintertauglich.
„Kannst du uns nicht ein paar Handschuhe herbei zaubern?“ fragte er und knetete seine fast steif gefrorenen Finger.
„Ich kann nicht zaubern“, antwortete Beth leicht verlegen. Sie formte einen weiteren Schneeball, bückte sich und begann in ihm Schnee zu wälzen, damit weitere Flocken daran hängen blieben und er immer größer wurde.
„Aber du hast mir eine Couch und ein richtiges Bett beschafft, neue Saiten für meine Gitarre erscheinen lassen…wer weiß was du noch alles in meine Wohnung gezaubert hast während ich geschlafen habe.“ Alex stoppe seine Ausführungen und blieb lieber ruhig, schließlich erinnerte er sich ganz genau an die letzte Nacht und zufällig wusste er, dass Beth bis zum Morgen friedlich in seinen Armen geschlummert hatte. Er spürte das Blut in seinen Adern rauschen bei dem Gedanken an die vergangene Nacht…und es rauschte bedenklich schnell in eine Richtung in der er es im Moment gar nicht gebrauchen konnte. Vollkommen in Gedanken versunken bemerkte Alex nicht, wie Beth sich hinter ihm anschlich, den Schneeball mit einem inzwischen beachtlichen Durchmesser über seinen Kopf hob und ihn mit einer Art Kampfschrei fallen ließ.
Nun schluckte er also zum zweiten Mal an diesem Tag Schnee….diese Art Abkühlung hatte er wohl verdient bei den nicht-jugendfreien Gedanken die ihn seit dem Morgen in regelmäßigen Abständen überfielen. Alex wirbelte herum und sprintete hinter Beth her, die bereits lachend davon gelaufen war. Ihre Mütze wurde von einem kalten Lufthauch davon geweht und blieb im Schnee wie ein einsamer Blutstropfen liegen. Sie rannte und geriet beinahe ins Taumeln, weil ein albernes Kichern ihren gesamten Körper wie ein Erdbeben durchschüttelte. Heftig nach Luft japsend gab sie auf und ließ sich von Alex einfangen. Seine Arme umschlangen sie von hinten und hielten sie an Ort und Stelle.
„Ich kann nur Dinge erscheinen lassen, die dich glücklich machen….“, erklärte sie und wollte sich aus seinem Griff befreien aber er hielt sie so fest, dass sie keine Chance hatte zu entkommen.
Dinge, die ihn glücklich machen? Tausend Dinge fielen ihm da im Moment ein: Ein Kamin, ein Bärenfell, eine nackte Beth AUF dem Bärenfell VOR dem Kamin. Oder ein Whirlpool, ein warmer, sprudelnder Whirlpool mit einer süßen blonden Frau darin, die zufälligerweise Beth war….
Du machst mich glücklich, dachte Alex und gab seinen Engel frei. „Dann eben keine Handschuhe“, sagte er und formte vor Beth’ Augen einen kopfgroßen Schneeball. Alex hob die Kugel hoch und tat so als würde er damit auf sie zielen, doch statt sich für den Schneeangriff zu rächen, ließ er die Kugel auf den fertigen Schneemann-Körper fallen.
„Fertig“, verkündete er stolz.
Beth trat vor das Kunstwerk. „Ich glaube da fehlt noch etwas….“, sie hob ein paar Kiesel vom Wegesrand und drückte sie dem Schneemann als Mund und Augen aufs Gesicht. „Wie findest du ihn?“
„Schrecklich“, sagte Alex mit einem leisen liebevollen Lächeln. Er hatte den Kopf leicht zu ihr gelehnt, während er hinter ihr stand und seinen Arm dicht an ihrem Körper vorbei führte um dem Schneemann einen Ast als Nase in den Kopf zu stecken. Es fiel ihm immer schwerer Abstand zu seinem Engel zu halten. Irgendwie konnte er ihr nicht nah genug sein.
Beth drehte sich zu ihm und traf sofort seinen Blick. Nervös rieb sie sich die Hände und zog die Schultern noch. Alex zögerte nicht lange und ließ seine Finger zwischen ihre gleiten. „Du hast ja noch kältere Finger als ich“, sprach er mit rauer Stimme. Beth’ Haut war eisig, also legte er ihre zerbrechlich zarte Hand in seine großen Hände, führte sie zu seinem Mund und pustete einen warmen Atemzug dazwischen.
Ihr Blick haftete wie hypnotisiert auf seine Lippen, als er ihre Finger wieder los ließ.
Sie visierte ihr Ziel an und ehe Alex begreifen konnte was geschah, landeten der weichen kühlen Mund des Engels auf seinem. Er fühlte den Kuss nur eine Sekunde lang, da war er auch schon wieder vorbei und ließ ihn mit vollkommener Leere im Hirn zurück. Wie ein Ertrinkender schnappte er nach Luft und wie ein Süchtiger schnappte er dieser begehrenswerten Frau, die ihn so unvermittelt mit einem Kuss erkennen ließ was dieses nervenaufreibende Gefühl war, welches er seit einigen Tagen immer wieder spürte. Er wollte sie küssen. Er MUSSTE sie küssen. Unbedingt. Dringend.
Hastig zog er ihren Körper ein weiteres Mal an sich und zeigte ihr endlich wie es war ‚richtig’ geküsst zu werden. Ohne Mistelzweig und ohne ein Publikum. Er spürte ihre kalte Nasenspitze an seiner Wange, als er begann ihre Lippen zu kosten. Vorsichtig nippte er an ihrer Unterlippe, arbeitete sich küssend bis zu ihrem Mundwinkel vor und ließ seine Zungespitze an der zarten Haut ihres Mundes vorbei streichen. Dann stoppte er seine Bewegungen und Beth begann seine Lippen in gleicher Reihenfolge zu erforschen. Es war wie ein Spiel. Wenn sie stoppte, war er am Zug und umgekehrt. Jedes Mal kam ein Necken oder ein Küssen dazu und wurde von dem anderen in die sinnliche Kuss-Abfolge übernommen, bis die beiden heftig knutschend an dem Schneemann lehnten und sich schließlich schwer atmend voneinander trennten.
„Was passiert wenn du deinen Auftrag erfüllt hast?“ fragte Alex leise und sah Beth auf eine Weise an, die sie an einen kleinen Welpen erinnerte. Als wüsste er bereits ihre Antwort auf diese Frage löste er seine Augen von ihr und blickte mit einem kleinen Seufzer über die Landschaft. Die Sonne war gerade damit beschäftigt unterzugehen und den Himmel dabei in ein rotes, oranges und leuchtend pinkes Licht zu tauchen. „Man sagt, dass sie Engel gerade Plätzchen backen wenn der Sonnenuntergang so farbenfroh ist. Stimmt das wirklich?“ fragte er mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen.
Anstatt etwas zu antworten blickte Beth Richtung Himmel und festigte den Griff um seine starke Hand. Nach ein paar stillen Minuten flüsterte ganz leise, als wollte sie nicht dass ‚Die da Oben’ mithören: „Ja, das stimmt. Nur keiner erwähnt, dass Engel wirklich tollpatschig sind und die Plätzchen ab und an in Flammen aufgehen. Der wunderschöne Sonnenuntergang entsteht also eigentlich nur dann, wenn mal wieder ein Engelchen beim Backen eingeschlafen ist….“
Alex warf den Kopf in den Nacken und lachte leise über ihre niedliche Erzählweise. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen und blickte verliebt auf Beth herunter. Zärtlich strich er eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und ließ seine Hand in ihren Nacken wandern. Das Lachen war aus seinen Gesichtszügen verflogen und wurde von einem durchdringlichen Blick auf ihre Lippen ersetzt. Ein weiteres Mal beugte er sich zu ihr um sie zu küssen und Beth seufzte als sie seinen Mund spürte. Dieser Kuss war etwas vertrauter und weniger schüchtern als der erste und es war als würden tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch aus einem langen Winterschlaf aufgeschreckt werden…wenn Schmetterlinge überhaupt so etwas ähnliches wie Winterschlaf hielten……auf jeden Fall, da war sich der Engel sicher, hatte sie noch nie etwas Vergleichbares gespürt. Seine Lippen waren unheimlich weich und die Stoppeln seines Drei-Tage-Barts kratzten leicht an ihrem Kinn. Aus seiner Kehle drang eine Art genüssliches Brummen, welches als prickelnde Vibration an ihren Brustkorb ankam und sich dann weiter abwärts vorsetzte. Beth schmiegte sich an ihn, wollte ihm noch näher sein, wollte mit ihm verschmelzen, wollte, dass er sie nie mehr los lässt.
„Beth….“, wisperte er nach dem Kuss hingebungsvoll an ihren Lippen und sie schmunzelte, weil sich ihr Name aus seinem Mund plötzlich so fremd anhörte. „Lass uns nach Hause gehen…“, beendete er den Satz und zog den immer noch leicht benommenen Engel eilig an der Hand hinter sich her.