Es war ein trüber Sonntagnachmittag. Kein normaler Sonntagnachmittag, sondern der 4. Advent. Weihnachten rückte unaufhaltsam näher und ließ sich nicht aufhalten.
Arni saß etwas missmutig vor ihrem Laptop und langweilte sich. Sie hasste die Adventszeit und Weihnachten. Also hassen war vielleicht etwas übertrieben, aber dieser ganze Rummel, künstliche Stress und kalendermäßig bedingte Geschenkekaufzwang gingen ihr einfach tierisch auf den Keks.
Apropos Keks! Irgendwo mussten doch noch diese schweineleckeren Schokokekse rumliegen. Die mussten unbedingt weg und vertilgt werden. Für irgendetwas musste so ein besch … scheidener Adventssonntag ja gut sein! Vielleicht noch ein heißer Kakao mit Schuss dazu?
Geniale Idee! Arni klopfte sich im Geiste selber auf die Schulter und eilte in die Küche, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Als sie kurze Zeit später mit vollen Backen kauend und bewaffnet mit einer Riesentasse voll heißer Schokolade und einem großen Schuss Minzlikör wieder vor ihrem Laptop hockte, hatte sich ihre Laune dann doch um einiges gesteigert.
Dennoch war ihre Gesamtstimmung noch weit von einem Hoch entfernt, denn auf ihrer Lieblingsinternetseite war es heute Nachmittag sehr ruhig. Wahrscheinlich hingen alle Forumsmädels auf irgendeinem Weihnachtsmarkt rum und kippten sich literweise den Glühwein rein.
Arni seufzte. Sie war heilfroh, wenn diese ganzen Feier- und Festtage wieder vorbei waren und der normale Alltag zurückkehrte.
Immer noch seufzend klickte sie weiter durch besagte Lieblingsinternetseite, auf der Suche nach irgendeinem aufregenden Newsflash. Und da - endlich blinkte ein neuer Beitrag auf: Der Blaubeergrinch - eine Weihnachtsgeschichte 4. Teil.
Die Aussicht auf ein neues Kapitel dieser Story entlockte arni zwischen zwei schmatzenden Kaubewegungen ein kleines Lächeln. Die vorherigen drei Teile an den vergangenen Adventssonntagen hatte sie auch gelesen, und die hatten ihr total super gefallen. Die Story war nicht zu übertrieben weihnachtlich, aber sehr emotional und handelte von der kleinen Gracie und ihrem Lieblingsonkel Steve, die sich aufgrund einiger selbst verursachter Missverständnisse gegenseitig in ein schreckliches Gefühlschaos gestürzt hatten. Zum Heulen schön und jedes Wort lesenswert!
Auch der vierte und letzte Teil würde bestimmt wieder himmeljochjauchzend und zuckersüß sein, aber arni war heute definitiv nicht nach Fluff. Sie seufzte erneut, biss noch einmal mit Nachdruck in ihren Schokokeks und klickte den neuen Beitrag dann ungelesen weg. Später würde sie das Kapitel sicher lesen, irgendwann – aber nicht jetzt!
Im gleichen Augenblick hörte sie ein leises, wenn auch glockenhelles ’Pling‘ und während sie noch über die Herkunft dieses Geräusches nachdachte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine kleine Gestalt wahr, die auf der Kante des Laptopbildschirmes hockte und mit den Beinchen baumelte.
Was zum Henker …? Arni verschluckte sich vor Schreck an einem der Kekskrümel und konnte einen kleinen, aber heftigen Hustenanfall nicht verhindern. Als der Hustenreiz abgeklungen war und arni den Blick wieder hob, saß die kleine Gestalt noch immer auf der Bildschirmkante und baumelte mit den Beinchen.
Arni starrte auf dieses undefinierbare Wesen vor sich und dann auf ihre Tasse Kakao, die neben dem Laptop stand. Soooo viel Minzlikör hatte sie doch gar nicht da rein geschüttet?!
Die kleine Gestalt lächelte. „Hallo arni, geht’s wieder mit dem Hustenanfall? Tut mir echt leid, ich wollte Dich nicht erschrecken!“
Die Stimme klang lieblich und irgendwie zart und weich wie Wattebällchen in arnis Ohren. So wie das ganze Wesen lieblich aussah mit einem weich fallenden weißen Gewand, güldener Wallemähne und kleinen goldglitzernden Flügelchen, die bei jeder Bewegung funkelten und strahlten.
Arni rieb sich die Augen. Das konnte doch nicht … das war doch wohl nicht … das sah aus wie ein Engelchen?! Sie schnappte nach Luft und fixierte dann die kleine Gestalt mit festem Blick. „Was bist du denn für eine?“ fragte sie mit leicht zittriger Stimme.
Die kleine Gestalt lächelte noch immer gar lieblich. „Mein Name ist Siv, ich bin ein Weihnachtsengel!“
Arnis Mund entfuhr ein kleines ungläubiges Grunzen. „Ein Weihnachtsengel? Nee, schon klar!“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was willste ausgerechnet hier bei mir? Ich steh‘ nicht auf das ganze Weihnachtsgedöns …“
Die Kleine nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Genau, arni, und deshalb bin ich hier. Ich habe diese Weihnachtsgeschichte über Gracie und Steve geschrieben, um dich davon zu überzeugen, wie schön und besinnlich die Adventszeit ist. An den vergangenen drei Sonntagen hab‘ ich mein Ziel auch schon erreicht. Aber du musst jetzt auch das letzte Kapitel noch lesen, damit mein Auftrag erfüllt ist.“
Außer einem erneuten leichten Grunzen fiel arni spontan nichts ein. „Du willst mich verar...", arni zögerte. Dieses Wesen hatte zwar nur Danny-Größe, aber wenn es nun tatsächlich ein Weihnachtsengel war?
„Du willst mich veräppeln“, vollendete sie ihren Satz und schaute die kleine Gestalt mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieses Augenbrauendings hatte sie mal irgendwo gesehen und fand, dass dieser Gesichtsausdruck unwiderstehlich autoritär rüberkam … wenn man ihn denn beherrschte, wovon arni aber noch Lichtjahre entfernt war.
Siv legte sich kichernd ihre kleine Patschehand vor den Mund. „Nein, arni, ich will dich nicht verarschen“. Sie kicherte noch immer und zwinkerte arni bei dieser Wortwahl fröhlich an. „Glaub‘ mir, du wirst auch mein letztes Kapitel lieben. Du wirst wieder Herzchenzucken bekommen und dich sauwohl fühlen und das Weihnachtsfest mit ganz anderen Augen sehen!“
„Ich hab‘ jetzt keinen Bock darauf, diesen Blaubeergremlin zu lesen!“ arni wusste, dass sie sich gerade albern und bockig wie ein Kleinkind benahm, aber sie fühlte sich total überfordert mit der Gesamtsituation.
Siv war durch arnis Worte nicht aus der Fassung zu bringen. „Ein Heidelbeergrinch, arni! Ein Grinch! Gremlins sind die Plüschviecher, die man nach Mitternacht nicht füttern darf!“ sagte sie mit lieblicher Stimme, wenn auch mit einigem Nachdruck.
Arni rollte mit den Augen. „Klugscheißermodus aus, Siv! Man könnte fast meinen, Du wärst Lehrerin!“
Siv lächelte weise und schwieg.
„Sag‘ mal …“, arni gab sich so schnell nicht geschlagen, „… bist du eigentlich allein unterwegs oder gibt es noch mehr von deiner Sorte?“
„Oh, es gibt noch mehr Weihnachtsengelchen, die alle eifrig beschäftigt sind, euch eine Freude zu machen und die Adventszeit zu versüßen! Da gibt es die leiCa und die Nina – das sind die Verrücktesten von unserer Truppe. Ich frage mich immer wieder, wer ausgerechnet die beiden zu Engeln berufen hat!“
Siv gluckste fröhlich vor sich hin und schüttelte dabei leicht den Kopf, um ihrer Unverständnis Nachdruck zu verleihen.
„Und dann gibt es die Kasi, das ist unser alljährlicher Weihnachtswichtel und unser Technikengel. Sie sorgt dafür, dass die Adventskalendertürchen morgens immer in der richtigen Reihenfolge und ohne Klemmen und Quietschen zu öffnen sind. Und dann ist da noch …“, Siv schien kurz zu zögern.
„Häh? Wer ist da noch?“
Siv kratzte sich etwas verlegen am Kopf. „Da ist noch Skydevil!“
„Kreisch …“ platzte es aus arni heraus. „Ein Engel, der Devil heißt!? Ich schmeiß‘ mich wech …!“
„Na ja, eigentlich nennen wir sie alle nur Sky! Klingt etwas neutraler. Sky ist unser kreativer Bastelengel und für den weihnachtlichen Dekoschmuck zuständig.“
Arni kicherte noch immer. Dieser ursprünglich so langweilige Sonntagnachmittag entwickelte sich überraschender Weise immer erfreulicher.
„So, Siv! Was willst du denn jetzt eigentlich von mir?“
„Du musst das vierte und letzte Kapitel meiner Weihnachtsgeschichte lesen. Es wird dir gefallen. Und Weihnachten wird dir dann auch gefallen.“
„Hhmm. Ich weiß nicht, ich wollte es eigentlich später lesen.“
„Später ist zu spät, arni! Dann ist Weihnachten vorbei und ich konnte meinen Auftrag nicht erfüllen und dich von dem Fest der Liebe überzeugen!“
„Hhmm“, arni war sich noch immer nicht ganz sicher, ob ihr gerade der Sinn nach einer schnulzigen Christmasgeschichte stand.
Siv lehnte sich etwas vor in arnis Richtung und zwinkerte sie wissend an. „Hey, gib’s zu, du stehst doch auf Onkel Steve!“
„Pfft!“ arni gab ein leichtes Schnauben von sich. „Ich hab‘ selber einen sehr netten Patenonkel. Wir waren letzten Sommer auf Bora Bora schwimmen und tauchen.“ Sie zögerte einen winzigen Augenblick, als müsse sie darüber nachdenken, ob sie Siv in diesem Zusammenhang noch eine weitere Info verraten sollte. „Er nennt mich Mathilda“.
Siv lächelte wieder einmal weise und schwieg.
Nach einem kleinen Augenblick des Schweigens versuchte Siv noch einmal ihr Glück: „Was ist jetzt? Liest du jetzt meine Geschichte?“
Arni rollte kurz mit den Augen. „Warum ist dir das so wichtig? Was hast du davon, wenn du deinen Auftrag erfüllst? Oder machst du das ganz uneigennützig?“
Siv kratzte sich verlegen am Kinn und ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht. „Wenn ich meinen Auftrag erfülle, bekomme ich größere Flügel.“
„Größere Flügel? Reichen deine denn nicht? Du bist damit von Baden-Württemberg nach Niedersachsen geflogen, was willst du noch mehr?“
„Ich will nach Hawaii!“
Sivs Stimme war jetzt mehr ein Wispern und sie hatte ein wenig verschämt den Blick gesenkt und starrte angestrengt auf ihre Finger, die sie schüchtern in ihrem Schoß gefaltet hatte.
Eine Woge der Zuneigung erfasste arni bei diesem Anblick und plötzlich verstand sie, dass es bei Weihnachten um viel mehr ging als um schnöden Geschenkekonsum. Alles was jetzt wichtig und von Belang schien, war einzig und allein, dass Siv ihre größeren Flügel bekommen würde, um sich ihren Traum erfüllen. Und arni würde alles tun, um dieser kleinen Gestalt eine Freude zu machen.
Ohne weiter nachzudenken, klickte sie mit einer schnellen Fingerbewegung das 4. Kapitel von Sivs Adventsgeschichte an, um dieses zu öffnen und ohne weitere Verzögerung zu lesen.
Als sie nach einiger Zeit fertig war, wischte sie sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augenwinkel, die tränenfeucht glänzten.
„Ach, Siv! Das war wunder-, wunderschön!“ seufzte sie mit etwas belegter Stimme. "Einhundert Prozent Gänsehaut“ ergänzte sie dann noch, bevor sie ziemlich undamenhaft die Nase hochzog.
Siv, die während arnis Lesen bewegungslos, wenn auch mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen erwartungsvoll ausgeharrt hatte, brüllte jetzt mit strahlenden Gesicht „FERPEKT!!!“ und riss vor Begeisterung über arnis positive Rückmeldung die Ärmchen in die Luft und wedelte damit herum.
Nur der geschickte Einsatz ihrer goldenen Flügelchen sorgte dafür, dass sie durch diese plötzliche Bewegung nicht von der Bildschirmkante plumpste, sondern blitzschnell ihre Balance wiedererlangte.
Arni starrte fasziniert auf die kleine goldene Glitzerwolke, die Siv durch ihren plötzlichen Flügelschlag aufgewirbelt hatte, und die das himmlische Wesen kurzzeitig einnebelte. Das war ein unbeschreiblich schöner Anblick und in einem Anflug von überschäumender Freude sprang sie auf.
„Hey, wir werden jetzt mal ein bisschen weihnachtliche Atmosphäre schaffen. Was hältst Du davon, Siv?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief arni zum Schrank und kramte ein paar Teelichter hervor, die sie dann mit Hingabe in Sternform auf dem Tisch dekorierte und anzündete. Sofort verbreitete sich eine heimelige Atmosphäre im Zimmer, wie Siv wohlwollend mit einem kleinen Kopfnicken feststellte.
Arni stöberte weiter in ihrem Schrank und zauberte kurz darauf ein Foto ihres Patenonkels hervor, das sie kurz mit dem Ärmel ihres Pullis entstaubte, um es dann mit einem breiten Lächeln in Sichtweite neben ihrem Laptop zu drapieren.
Anschließend eine kleine Drehung hin zum CD-Regal, einen ganz bestimmten Song gesucht und in den CD-Player befördert. Als die ersten Töne von Whams ‚Last Christmas’ durchs Zimmer klangen, klatschte arni begeistert in die Hände. „Na, wenn jetzt keine Weihnachtsstimmung aufkommt! Was meinst Du, Siv?“
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht drehte sie sich Richtung Tisch samt Laptop um, doch die Bildschirmkante, auf der noch vor wenigen Augenblicken der Weihnachtsengel, eingehüllt in eine goldenen Glitzerwolke gehockt hatte, war leer.
„Siv …??!!“
Mit zwei Schritten war arni am Tisch, weil sie hoffte, Siv hätte nur ihren Sitzplatz verändert, aber das himmlische Wesen war verschwunden.
Bekümmert und mit einem lauten Seufzer ließ arni sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war echt so was von bescheuert! War doch klar, dass hier kein Engel hockte und sich mit ihr über Sinn und Unsinn von Weihnachten unterhielt. Garantiert war sie bei zunehmender Dämmerung eingepennt und hatte nur blöd geträumt. Und der Minzlikör hatte offensichtlich doch wesentlich mehr Umdrehungen als sie vermutet hatte.
Wie auch immer, das war auf jeden Fall ein schöner Traum gewesen! Und irgendwie fühlte sie sich gerade richtig wohl, während sie den Blick über ihre zugegebenermaßen mickrige Weihnachtsdeko streifen ließ und George Michael noch immer im Hintergrund sein ‚Last Christmas‘ schmetterte.
Gedankenversunken fuhr sie mit der rechten Hand über die Bildschirmkante, wo in ihrem Traum noch vor kurzem der kleine Engel gehockt hatte. Im nächsten Augenblick starrte sie mit großen Augen fasziniert auf ihre Fingerkuppen, die über und über mit goldenem Glitzer bedeckt waren, der im Licht der brennenden Teelichter funkelte wie Diamanten.
Flügelstaub!Ein Glücksgefühl wie selten zuvor durchströmte arni und sie blickte lächelnd durch das Fenster in den sternenübersäten Abendhimmel. „Guten Flug, kleine Siv …“ sagte sie mit leiser Stimme, „… und Mele Kalikimaka!“
E N D E